Elisabeth Strässle

Sibylle Omlin: Derborence

Elisabeth Strässle
Derborence. Malerei und Zeichnung
Kunstmuseum Solothurn


Sibylle Omlin
Derborence


Zur neuesten Werkgruppe von Elisabeth Strässle


«Es war eine Stelle, wo früher die Felswand hervorgetreten und unter einer Eislast voller Gletscherblöcke übergehangen war: und man sah, dass jetzt an der Stelle des Vorsprungs eine Einbuchtung war, das Kon­vexe war nun konkav geworden. Der vortretende Fels war einer breiten, sehr steilen Runse gewichen, deren Inhalt sich in einemmal auf die Wei­de ergossen hatte, so dass sie keine Weide mehr war, auf ihre Bewoh­ner, so dass sie da nicht mehr wohnten, auf das, was gelebt hatte, so dass es zu leben aufhörte. Da war jetzt nirgends mehr etwas anderes als die Reglosigkeit und die Stille des Todes.» 1)


Im Juni 2015 steigt eine Frau über die felsigen Brocken im Talkessel von Derborence hinweg. Sie trägt Jeans, Wanderschuhe und einen Ano­rak. Ab und zu zieht sie einen Notizblock aus der Tasche und zeichnet schnell. Es ist kühl für die Jahreszeit. Ihre Augen wandern wachsam über die Gesteine. Hier ist der Kegel der Schuttmassen am dichtesten. Grosse Felsstücke, Blöcke. «Shapes» nennt die Frau die Formen für sich. Als der Schatten fällt, beschliesst sie, umzukehren und ein anderes Mal wiederzukommen.
Am 23. September 1714 löste sich ein riesiger Teil des Felsens unter dem Gletscher von Diablerets, an einem Ort namens Derotchieu. Die Bruchstelle kann man heute noch sehr deutlich sehen. Der grösste Teil dieser Felsmassen landete auf der linken Seite des Flusses im Talkessel, der Rest breitete sich auf der rechten Seite weiter unten bis zum Vallon de Cheville aus, 1500 Meter ü.M. Er ergoss sich in Form eines Kegels zwischen den Weiden von Derborence und Godey, auf einer Breite von über 1800 Metern. Der grösste Teil des Felssturzes blieb an dieser Stelle liegen; nur eine kleinere Menge Gestein rutschte durch den engen Teil des Tals ab und hielt auf etwa 1100 Höhenmetern, auf einer Länge von insgesamt fünf Kilometern.


Es wurde geschätzt, dass die Dicke dieser Felsenmassen zwischen Go­dey und Derborence etwa 100 Meter beträgt. Die Schäden waren be­trächtlich. Nach dem Zeugnis eines örtlichen Priesters aus Ardon wurden 55 Chalets und vierzehn Menschen unter den Trümmern begraben, und nur fünf Menschen wurden gerettet. Der Pfarrer kam zwei Tage nach der Katastrophe zu der Unglücksstelle, um die «Teufel der Berge» zu exorzie­ren. Ein zweiter Steinschlag ereignete sich 1749 an derselben Stelle. Die Masse der Felsen rutschte auf der rechten Seite tiefer ab, wo der See von Derborence zu entstehen begann. Die Leute, die sich in jenen Sommer­monaten in diesem Berggebiet in den Alpen aufhielten, konnten sehen, wie die Felsen zu beben anfingen, und deshalb konnten sie sich und ihre Tiere in Sicherheit bringen. Diesmal wurden 40 Chalets und Alphütten verschüttet, aber keine Menschenleben gingen verloren. An den Ufern des Sees und auf den Geröllhalden von Derborence hat sich der jüngste Urwald der Schweiz herausgebildet, welcher heute noch in seiner Ursprünglichkeit anzutreffen ist und unter Schutz steht. Durch die schlechte Erreichbarkeit und die Siedlungsgeschichte des Tals wurde der Wald nur vereinzelt bewirtschaftet und zu grossen Teilen seit annähernd dreihundert Jahren der Natur überlassen.


Die Katastrophe wurde in verschiedenen Berichten, Erzählungen und auch Filmen festgehalten, doch nichts berührt die Menschen so sehr wie Derborence von Charles Ferdinand Ramuz. Der 1934 erschienene Roman handelt von einem Liebespaar auf der verschütteten Alm. Die Geschichte, die sich zwischen dem Dorf im Tal und der darüberliegen­den Alm, zwischen dem verschütteten und zurückgekehrten Antoine und seiner Frau Thérèse entspinnt, wird von eindringlichen Landschafts­bildern umrahmt. «Derborence, das ist zunächst ein Stück Winter, das uns mitten im Som­mer entgegentritt, denn der Schatten verweilt dort fast den ganzen Tag, und hält sich noch, wenn die Sonne am höchsten steht. Und man sieht, dass es da nur noch Steine gibt, Steine und nochmals Steine. […] Die Sonne, die teilweise auf [dem Felsen] liegt, färbt ihn noch auf verschie­dene Weise, denn eine der Bergketten wirft ihren Schatten auf die an­dere, die Kette im Süden wirft ihren Schatten auf die Kette im Norden: man sieht, ganz oben sind die Wände gelb wie reife Trauben und rot wie Rosen. […] Etwas liegt hier überall zwischen dem, was lebt, und uns selber. Das ist zunächst wie Sand, ein Kegel, mit der Spitze halb in die Nordwand verstrebt; und von dort aus, überall zerstreut wie Würfel aus dem Becher, wirkliche Würfel, Würfel von allen Größen, ein viereckiger Block, noch ein viereckiger Block, Blöcke aufeinander, hintereinander, kleine und große, so weit man sieht.» 2)


Auch Elisabeth Strässle hat das Buch von Ramuz gelesen. Sie ist in die­ses Tal hinaufgefahren, weil sie mehr wissen wollte. Von Antoine. Und von dem, was er in den verstreuten Felsmassen erlebt hatte. Unter dem Stein, aus dem er zwei Monate nach dem Bergsturz von 1719 heraus­gekrochen war und sich einen Weg ins Tal gesucht hatte, zurück zu den Menschen. Das war nicht ganz einfach für Antoine. Elisabeth Strässle, die Künstlerin, wollte sehen und – so hoffte sie – verstehen. Sie stieg in Gerlafingen in den Zug und fuhr mit Bahn und Bus ins Val Derborence. Wenige Skizzen sind entstanden. Grob gezogen mit einem Bleistift oder einem Stück Kohle. Wie die Zeichnung einer Geologin. Auf einem klein­formatigen Blatt Papier. Elisabeth Strässle scheint mit wenigem auszu­kommen.


Es ist ein nebliger Tag, als ich Anfang des Jahres zu Elisabeth Strässle nach Gerlafingen reise. Fast keine Farben in der Landschaft ausser Grau, Braun, ein bisschen Schwarz. Es ist Winter. Im Atelier der Künstlerin sind drei grosse Malereien in Arbeit, eine direkt an die Wand gepinnt. Sie zeigt mir weitere Leinwände, auf Holzrahmen aufgespannt. Die Far­ben direkt, hell. Monochrome wolkige Flächen werden auf die weisse Leinwand gesetzt. Von der Mitte der Leinwand her entwickelt. Die beim Malen entstehenden Flächen bestimmen das Bild, seine Komposition. Die Farbe wird mit kleinen Strichen aufgetragen. Alla prima. Die Künst­lerin arbeitet von der Mitte des Bildformats aus, in einer Schicht. Wenn die Striche enger zusammenrücken, wird die Farbe dunkler. Selten kom­men mehrere Schichten auf der Leinwand zu liegen. Das einfarbige Ma­len auf Weiss schafft eine schwebende Atmosphäre im Bild. Die farbige Fläche hat keine bestimmte Form. Sie überquert das Bild horizontal, ab und zu auch von oben nach unten. Die Ränder der Form: Sie beschäf­tigen mich. Das ist nicht oft zu sehen in der zeitgenössischen Malerei, eine solche Art von Monochromie.


Das Atelier ist gross, zwei Räume, die L-förmig aneinanderstossen. Das Licht kommt von oben durch grosse Shed-Fenster. Der Raum gehört zu einem ehemaligen Gebäude der Eisenindustrie am Jura-Südfuss und beherbergt verschiedene Mieter. Elisabeth Strässle ist nach ihrer Rück­kehr aus New York in die Heimat gezogen, in den Kanton Solothurn, und hat diesen Ort gefunden, an dem seit zwanzig Jahren ihre Werke entstehen. Es gefällt ihr, hier zu arbeiten, neben der lärmigen Industrie, die in der Schweiz so fast nicht mehr besteht oder zu sehen ist. Es ist Schwerstarbeit, Eisen zu schmelzen, zu giessen, zu bewegen. Die Ge­räusche auf dem Areal gehören dazu.


Die Künstlerin malt vorwiegend ohne Gegenstand, was nicht heisst, oh­ne Thema zu arbeiten. Im Jahr 2017 entstanden Bilder zu Derborence, welche die Gesteinsbrocken vom Felssturz zum Inhalt haben. Sie wollte verstehen, was man nach dem Bergsturz in der Landschaft von Der­borence erleben konnte. Was Antoine gesehen hat in seiner Felshöhle.

Gestein von unten sehen. Ein dichtes Blau, ein Grün. Auf dem Weiss der Leinwand platziert. Wenn ich diese Bilder anschaue, denke ich nicht un­bedingt an ein gebirgiges Tal, sondern an Wiesen und an den Himmel. Nach und nach tauche ich als Betrachterin in die Farbe ein, sehe wolkige Strukturen, fahre mit den Augen dem Rand der Form nach, die oft aus­franst, wie verweht wird. Etwas bricht ab, der Pinselstrich läuft aus. Die Brüche von Stein in der Berglandschaft, das Ineinandergleiten von Licht und Schatten zwischen den Felsbrocken, die heute in der Landschaft von Derborence von einer grünen Grasnarbe bedeckt sind. Die Struktur im Gestein, kleinste flirrende Splitter und Körner im karstigen Kalk. Das Weiss der Leinwand ist eine Leere. Ein Nichts. 
«Alles wurde grün: das Gras kommt wieder hervor; das ist, wie wenn der Maler zuerst die grüne Farbe hätte von dem Pinsel tropfen lassen, und die Tropfen flößen dann ineinander. Ah! Derborence, du warst schön, du warst schön in jener Zeit, wenn du dich schmücktest von Ende Mai an, für die Männer, die kommen würden.» 3)


Mehrmals ist die Künstlerin zwischen 2015 und 2017 nach Derborence gekommen, vor allem im Juni und Juli. In dieses stille Tal, das nur im Sommer überhaupt befahrbar ist. Im Herbst liegt dort sehr viel Schat­ten. Im Winter ist die Fahrstrasse, die erst seit 1960 besteht, gesperrt. Lawinenniedergänge und ihre Kegel machen den Zugang schwierig. Ab und zu lässt sich ein Bewohner samt Vorräten einschneien und über­wintert im Talkessel. Im März sieht man die ersten Spuren von Menschen auf der noch gesperrten Strasse. Im Sommer sind ein paar Touristen, Wanderer und Motorradfahrer dort. Und die Alpbesitzer oben im Tal, ja, die gibt es immer noch. Das Wallis kennt diese uralte Form der «Trans­humance» der Gebirgsvölker: Die Menschen besitzen hier meist eine Wohnung im Tal und ein «Mayen» (Maiensäss) im Gebirge. Im Sommer ist ein ständiges Kommen und Gehen zwischen Wohnort und Chalet oder «Mayen». Auch Elisabeth Strässle hat ihren Ort in Derborence gefunden. Immer wieder ist sie auf demselben Felsbrocken im Schat­ten einer mannshohen Birke gesessen und hat ihr selbst mitgebrach­tes Picknick ausgebreitet. «Sehr wahrscheinlich erkennst du die Stelle, nahe am See, wo die Felsbrocken lose im Aufschwemmland und dem Birkenwald herumstehen.» 
Das Tal von Derborence liegt zwischen zwei verschiedenen Klimazonen. Der untere Teil des Tales, beeinflusst durch das mittlere Rhonetal, wird trocken und heiss; und der obere Teil, durch das Unterwallis, ist bereits etwas klamm und atlantisch. Die feuchten Luftmassen drängen über den Pas de Cheveille und die Diablerets-Kette. Auch geologisch ist diese Gegend zwischen zwei Zonen zu liegen gekommen. Die Entstehung die­ser Berge begann vor 154 Millionen Jahren auf dem Grund eines heute verschwundenen Ozeans, den Geologen Tethys nennen. Am Boden die­ses tropischen Ozeans, der damals Europa von Afrika trennte, wurden biologische Stoffe und Meeresgetier nach und nach abgelagert und in Gestein umgewandelt. Kalk und Mergel haben sich in einer Mächtigkeit von mehr als einem Kilometer angesammelt.


Dieser Übergang, in dem die Landschaft um Derborence liegt, ist indi­rekt auch ein Thema von Elisabeth Strässles Malerei. Sie setzt die Farb­fläche auf einen weissen Untergrund, eine leichte Kalkgrundierung auf der Leinwand. Ich bin unsicher, als was ich diesen Grund bezeichnen soll. Ist es eine neutrale Fläche? Ein einfacher Grund? Ist es schlicht ein Bildträger, auf dem sich die Farbe möglichst ohne Fremdeinfluss ent­wickeln kann? Elisabeth Strässle bezeichnet den Bildträger – wie viele andere Maler – als eine verheissungsvolle Experimentierfläche für das, was sie in der Landschaft gesehen hat. Das Weiss des Untergrunds ist für die Malerin eine Leere, eine Lücke zwischen den Felsbrocken, zwi­schen der Farbe. «Ein Nirvana», wie sie sagt. Darauf soll sich das ent­wickeln, was sie gesehen hat an Farbe und Form in Derborence. Sie ist zwischen den massiven Felsbrocken gestanden. Ein räumliches Erleb­nis. Doch wie bringt sie dies zu Papier? Auf die Leinwand? Sie liebt die einfachsten und direktesten Wege. Sie beginnt, von der Mitte aus zu ma­len; die Ränder der Form ergeben sich im Anhalten, Aufhören, Stoppen vor dem Rand des Bildformats. Der Rand der Form trägt die Spuren des Sich-Findens in der Form. Der Pinsel kratzt auf dem Untergrund. Oder er hört einfach auf, im Weiss zu malen. Die Künstlerin will den Pinsel nicht weiterziehen, da es in der Farbe noch Dinge zu benennen gibt. Dichte, widerstrebende Striche. Die Ränder der gemalten Form sind somit Er­gebnisse – faserige Striche oder einfach Haltestellen – in einem Prozess, in dem sich die Malerin bewusst wird, was sie in Derborence gesehen hat. Elisabeth Strässle nennt in diesem Zusammenhang im Gespräch die Figur von Antoine, dem Hirten aus Derborence, der nach zwei Monaten Verschüttetsein einen Weg aus den Felsbrocken heraus gefunden hat und einen Weg zurück ins Dorf. Dieser Weg Antoines war keine schnur­gerade Strasse, sondern ein langsames und widersprüchliches Schrei­ten zwischen den Felsbrocken. «Wo bin ich?», fragt sich Antoine immer wieder in diesem von Gesteinstrümmern überzogenen Landstrich.


Derborence. Terre inutilisable nennt Elisabeth Strässle ihren Malerei­zyklus. Die Ansicht und die Komposition einer Landschaft interessieren Elisabeth Strässle nicht. Landschaft ist für sie ein Prozess, den sie erle­ben und verstehen kann. Damit befindet sie sich in einem Kontext von Landschaftskunst, in der Landschaft vor dem Hintergrund eines psycho­geografischen oder wissenschaftlichen – vor allem geologischen – Inte­resses auftaucht. Die Landschaft von Derborence ist für Elisabeth Strässle ein Untersu­chungsfeld, das eher das Innere des Menschen auslotet als das Äussere der naturhaften Formen. Als die Künstlerin noch in New York lebte, ging sie gerne in die Dioramen und naturhistorischen Museen, um zu sehen und zu zeichnen. Die Elemente der Natur im Museum begreifen. Isoliert, als Teil von thematischen Ausstellungsgruppen. Der Gang in die Natur hinaus ist für Elisabeth Strässle eigentlich nicht unbedingt Methode zum Malen: Sie versteht sich nicht als Pleinair-Malerin. Ihr ist das The­ma der Landschaft als Sujet nicht wichtig. Die Farben, die sie in ihr fin­det, interessieren sie. Sie geht mit einer Art Behutsamkeit, Neugier und auch Einfachheit an die Bildfindung heran, voller Aufmerksamkeit für Atmosphären, innere Stimmungen, die sich auch bei der Betrachtung in einer Landschaft finden. 
Die Farbfläche auf der weissen Leinwand vergrössert sich, fasert aus, setzt eine grosse Ecke in eine bestimmte Richtung, fliesst über den Rand der Leinwand hinaus. Die Begrenzung zwischen Farbe und Grund bildet einen Übergang, dem entlang verschiedene Stufen ablesbar sind. Harte Linien, weiche Kontur, der Pinsel fährt einfach irgendwo hin. Der Bewegung muss gefolgt werden. Es ist wie in der Natur. Es regnet und schneit, der Stein wird nass, trocknet wieder, feinste Elemente von Quarz oder Glimmer werden vom Wind weggetragen, ins Grün der Wie­se hinein. Zwischen die Alpenblumen, auf das Fell einer weidenden Kuh. Man weiss es nicht genau. Aber kann es im Machen und Sehen erahnen.


Elisabeth Strässle nimmt das niederländische Blau oder das Grün und presst es aufs Bild. Sie will erfahren, wie es sich mit dem Weiss des Un­tergrunds verbindet. Es kann ein sehr helles, wolkiges Blau werden oder ein sattes Grün. Ich kann damit aber keine Gegenstände verbinden, keinen Himmel, keine Wiese. Ich sehe die Materialität der Farbe, die der Leinwand, die sich zusammen im Gleichgewicht halten. Farbe und Leere stehen gleichberechtigt nebeneinander. Das Nirvana, so interpretiere ich den von Elisabeth Strässle genannten Begriff, ist in der asiatischen Philosophie ein Zustand von Loslassen und Leerwerden. Und die Ränder ihrer Bilder erzählen mir, dass ein Tagwerk beendet werden kann, in­dem die Künstlerin die Leinwand nach hinten umschlägt. Dies hat eine eigene Poesie.

 

2018, Sibylle Omlin

 

1) Charles Ferdinand Ramuz, Derborence. Aus dem Französischen von Hanno Helbling, Zürich: Limmat Verlag 1987, S.67. 
2) Charles Ferdinand Ramuz, ebenda, S.16ff. 
3) Charles Ferdinand Ramuz, ebenda, S.18. 

Heinrich Gartentor: Im Atelier von Elisabeth Strässle

Bei Elisabeth Strässle im Atelier entdeckte ich nebst einem Regal mittelgrossformatiger Malerei und einem Stapel Riesenformate Stoffreste, Muster die Strässle vor Jahren entworfen hatte und die in grossem Stil hergestellt worden waren. Die Reste dienen ihr heute als Putzlappen. Zwar hat Strässle Kett und Schuss und rechten Winkel der Weberei verlassen – und doch weitergewoben: der Zug im Strich, das Verdichten, das Repetieren, das Unermüdliche, das Unendliche – auch in den neusten Arbeiten, die sich dem Tier annähern. 

Das Unermüdliche und Unendliche wird heute auf einer neuen Ebene noch vertieft. Strässle tackert die Leinwand an die Wand, grundiert, übermalt mehrfach. Tackert Leinwand um Leinwand drüber, grundiert, übermalt. Immer neue Schichten – und mit jeder Schicht wird der Untergrund weicher und der gewobene Strich mit ihm.

2013, Heinrich Gartentor

Simon Baur: ‹Derborence›

Kunstbulletin 7–8 / 2018


Elisabeth Strässle
von Simon Baur


Solothurn — ‹Derborence›, der Roman von Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947), welcher den Bergsturz von 1714 in Les Diablerets behandelt, gibt der Ausstellung von Elisabeth Strässle (*1942, Solothurn) den klangvollen Titel. Die im ersten Saal des Kunstmuseums Solothurn versammelten Werke entstanden, als die Künstlerin jüngst dieses Gebiet besuchte. Auffällig ist ihr Arbeiten in Serien, wobei die Zeichnungen von ‹Geröll› und ‹Tag› auf den ersten Blick wie feine Studien von endlosen Geröllfeldern anmuten. Auf den zweiten wird jedoch ersichtlich, dass die präzise erfassten Ecken, Kanten und Spalten auf den Blättern von ‹Geröll›, in der Serie ‹Tag›, in ein freies formales Spiel mit diesen Elementen überführt wurden. Das Ergebnis einer nachträglichen, allmorgendlichen Zeichnungspraxis. Diese zwei Themen, die skizzenhaften Studien nach der «unbelebten» Natur sowie das Interesse an Übersetzungen in abstrakte «Formationen», prägen viele Werke. Die fünf Gemälde ‹Terre inutilisable› von 2018 etwa zeigen in dunklen Farben auf weissem Bildgrund je einen Körper, der an Gestein oder den Teil eines Bergs erinnert. Der Farbauftrag offenbart eine Struktur, welche die Gemälde wie Aquarelle erscheinen lässt. 

Strässle nutzt gekonnt Oberflächen, wie sich im zweiten Saal bei drei Tierdarstellungen zeigt. Je dreieinhalb Meter breit, ohne Rahmen, strahlen sie mit ihrer pastosen Malerei eine fast greifbare Dichte aus. Der ‹Kolkrabe› von 2018 verschmilzt förmlich mit dem schwarzen Bildgrund und wirkt gemeinsam mit dem Elefanten und dem Lastesel seltsam archaisch. Im dritten Saal zeigt Elisabeth Strässle, die von 1977 bis 1996 in New York lebte, unter anderem eine Skizze nach einem Affenskelett, die sie 1981 im Amercian Museum of Natural History anfertigte. Dasjenige eines Elefanten entstand 2014 im Naturhistorischen Museum Basel. Dabei sind die Skelette, welche eigentlich die Anatomie eines Wesens klären, nur vordergründig präzise. Die Strukturen in Strässles Bildern gleichen viel eher Spuren, die im Kern unergründlich bleiben, wie die ‹Paneele› von 1996 – womöglich feine Andeutungen verlorener Grossstadtarchitekturen. Die erste Einzelausstellung der Künstlerin in ihrem Heimatkanton ist ein Gewinn und man hätte sich noch ein, zwei Räume mehr gewünscht, auch wenn die mit Strässle gemeinsam kuratierte Sammlungsausstellung im zweiten Flügel durchaus gelungen ist. 

 

2018, Simon Baur


Kunstmuseum Solothurn
28.4.2018 bis 22.7.2018

Christoph Vögele: Terre inutilisable

Zur Verbindung der Medien im Schaffen von Elisabeth Strässle


«Und Elisabeth kauft sich wieder Papier und will immer noch nicht eine Künstlerin werden: Nur arbeiten. Sie hat nun nichts mehr zu beweisen, nichts mehr zu erzählen, nichts mehr zu beklagen. Sie hat nur noch Blät­ter zu füllen, und sie füllt diese Blätter mit sich selbst.»
Peter Bichsel, Die ungeschriebenen Briefe der Elisabeth Strässle 1)


Elisabeth Strässle kennt den französischen Begriff terre inutilisable aus dem Roman Derborence von Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947), der ihre Besuche im gleichnamigen Walliser Bergsturz-Gebiet motiviert und ihre neuesten Werke inspiriert hat. Die Bezeichnung benennt Teile der Erdoberfläche, die dem Menschen keinen Nutzen (mehr) bringen, also weder zum Wohnen noch zum Bewirtschaften oder Ausbeuten taugen. Die einsame Welt der terre inutilisable, allen offen stehend und doch nie­mandem dienend, erinnert an Elisabeth Strässles Kunst, die intuitiv und aus grosser Freiheit entsteht. Schon Peter Bichsel hat 1981 über ihre Zeichnungen geschrieben: «Elisabeth Strässle hat sich den Luxus geleis­tet zu arbeiten, sinnlos und ziellos zu arbeiten. Was hier vorliegt, das ist eine Produktion. Wer nicht bereit ist, Arbeit dahinter zu sehen, für den ist es eine sinnlose Produktion.» 2) Die mit Bedacht gewählte, ansons­ten für Industrie und Wirtschaft verwendete Bezeichnung betont den ursprünglichen Wortsinn des Hervorbringens. Elisabeth Strässle wen­det sich entschieden vom Anspruch des Abbildens ab, um anhand von Erinnerungen ihre eigenen «inneren» Bilder zu «produzieren». Mit der zeitlichen Abfolge von Erleben und Erinnern geht eine Konzentration einher, mit der sie das Wesen und Wesentliche der Dinge sucht. In der kontinuierlichen Arbeit des Zeichnens und Malens bietet sich der Künst­lerin eine Entsprechung zum Hervorholen des Erlebten. Die Erinnerung lebt wie der künstlerische Prozess im Hier und Jetzt. Auch wenn sie sich auf Vergangenes bezieht, dient sie einer Vergegenwärtigung. Die aus dem Erinnern geschaffenen, offenen Werke von Elisabeth Strässle regen die Betrachter wiederum zu eigenen Erinnerungen an – und werden ih­nen als Projektionsfläche zu einem «fruchtbaren Boden».


Zeichnen: Suchbewegungen

Elisabeth Strässle ist eine genuine Zeichnerin. Zu den wichtigsten frühen Präsentationen gehört eine grosse internationale Zeichnungsausstel­lung in Portugal, in der sie 1981 ihre Blätter neben anderen bedeuten­den Schweizer Zeichnerinnen und Zeichnern wie Martin Disler, Marianne Eigenheer, Gilgian Gelzer oder René Zäch zeigen konnte. 3) Aus demsel­ben Jahr stammt eine frühe Zeichnung aus New York, die das Skelett eines Affen aus dem American Museum of Natural History zeigt (S.43). Dem damaligen Zeichenstil, mit dem sie «das vage Einfangen eines Ge­genstandes» 4) übt, ist sie bis heute treu geblieben. Vergleichbare Zeich­nungen auf Papier oder Leinwand, die Affen- und Elefanten-Skelette zeigen, sind zwischen 2010 und 2014 (S.68, 69) entstanden und nun von Besuchen im Naturhistorischen Museum Basel inspiriert. Der feine Strich, mit dem sie die Skelette behutsam erfasst, scheint deren Fra­gilität zu respektieren, ja diese gleichsam zu verlebendigen. Obwohl sie den abstrakten Strukturen und der Gesamtform besondere Beach­tung schenkt, wirken die Motive räumlich. Die Skelette, welche die Künstlerin mit Bleistift auf Papier oder als Pinselzeichnung auf Lein­wand setzt, gehen trotz ihrer behutsamen Erfassung im leuchtendenWeiss der Bildgründe nicht unter und lassen an ihre einstigen Körper denken. Die entsprechenden Bilder und Zeichnungen mögen den nüch­ternen Geist naturwissenschaftlicher Museen reflektieren, die stete Wiederholung derselben Motive das zeichnerische Gebot des «Nulla dies sine linea» bestätigen, letztlich aber fügen sich Elisabeth Strässles Wer­ke von Tier-Skeletten in die lange Tradition des «Memento mori» ein – nicht zuletzt, weil sie den Tieren, die sie an Menschen erinnern, 5) so in­nig zugeneigt ist.

Elisabeth Strässle verbindet das Zeichnen mit dem «Beten von Rosen­kränzen» 6). Was vorerst abwertend klingt, kann als sprechende, wertfreie Beschreibung eines Arbeitens zwischen bewusster und automatischer Setzung verstanden werden. Gerade das vorübergehende Abgleiten vom Gegenstand lässt Freiraum für Assoziationen und Erinnerungen: «Bei­der-Sache-Sein» und «Bei-sich-Sein» fallen zusammen. Zeit und Dauer, Sich-Erinnern und Sich-Vergessen spielen dabei eine zentrale Rolle. Es ist bezeichnend, dass die neuesten, vom Bergsturz-Gebiet von Derbo­rence inspirierten Zeichnungen für längere Zeit täglich entstanden sind. Während eine kleinformatige Serie (S.35–39) das karge Gelände wirk­lichkeitsnaher vor Augen führt und dabei auch Details, wie Gräser, zeigt, sind die grösseren Blätter (S.18–25) abstrakter gezeichnet. Strukturen, Rhythmen, musterartige Wiederholungen sind hier wichtiger als das räumliche Gestalten eines gesehenen Geländes. In diesem Zusammen­hang darf darauf hingewiesen werden, dass Elisabeth Strässle lange als Textil-Designerin gearbeitet hat. So entschieden sie sich auch später der freien Kunst zugewendet hat, sind doch ihre ästhetischen Grundinte­ressen für Rapport und Materialität immer noch spürbar. Auch wenn sich die Zeichnungen zuweilen weit von einer herkömmlichen Land­schaftsdarstellung entfernen – zumal dort, wo sich aufgrund einer formatfüllenden All-over-Komposition keine Orientierung mehr anbie­tet –, erinnert sich die Künstlerin beim Betrachten ihrer Arbeiten an die Wege, die sie zwischen den Steinblöcken gesucht und genommen hat. Folgen wir mit unseren Augen den Strukturen ihrer Zeichnungen, so mögen wir ihre Wege gleichsam nachverfolgen – oder eigene finden: Zeichnen wie Gehen, Sehen wie Gehen.Es gehört zum Reiz und zur be­sonderen Qualität dieser Zeichnungen, dass wir bei ihrem Betrachten nie zu einem Ende kommen. 

 

Malen: Transparenz und Materialität

Für Elisabeth Strässle hat «alles mit der Farbe begonnen» 7). Schon sehr früh spürte sie in sich die Gabe eines besonderen Farbempfindens, die sie auch zu ihrem ersten Beruf als Textil-Gestalterin motiviert hat. Frühe Ölbilder aus den 1980er Jahren, die an ihrem langjährigen Wohn- und Arbeitsort New York entstanden sind, zeigen eine breite Palette ver­schiedener Farbtöne. Die Farbflächen sind zeichnerisch strukturiert. Es ist die Zeit der «Jungen Wilden», deren Expressivität sich auch beim Malen in einem gestisch-linearen Duktus äussert. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz wandelt sich die Palette. Nun bevorzugt sie zumeist er­dige Farbtöne und interessiert sich für die Möglichkeiten monochro­mer Malerei. Auffallend ist dabei die Dialektik, in die sich die Malerin bewusst begibt: Während ihre grossformatigen, ungerahmten Tücher Lastesel (S.64/65) und Der Elefant (S.66/67) in der pastosen, dunkel-tonigen Materialität fast zu Objekten werden, sind die mit dem Motiv­komplex Derborence verbundenen Gemälde oft so transparent gehalten, dass der weisse Leinwandgrund durch den Farbauftrag leuchtet. Mit Blau und Grün wendet sie sich hier auch neuen Farbtönen zu, die – bei den radikalsten Beispielen – nicht mehr gemischt scheinen. Auch inhalt­lich bewegt sich Elisabeth Strässle zwischen den Polen. In ihrer Malerei sucht sie sowohl das Materielle und Körperliche wie auch das Immate­rielle, Lichthafte und Geistige. Nie entscheidet sie sich nur für das eine, um stattdessen die Spannung zwischen den Extremen auszuhalten. Be­wusst geht sie Risiken ein und nimmt sich Freiheiten heraus: 

Mit Beru­fung auf Hannah Arendt will sie als freier Mensch auf einen «Handlauf» verzichten. Der «Touch», die Berührung, ist ihr spürbares Bedürfnis und Anliegen, das sowohl für ihre pastosen wie ihre transparenten Male­reien stehen kann: Ihre «Tiere», die sich zu Körpern wölbenden, riesi­gen Tücher, hat sie so lange mit dem Pinsel berührt, bis aus Leinwand «Haut» wurde – und berührend kann umgekehrt der Zauber ihrer lichten Bilder wirken, in denen sich das Materielle im weissen Nichts auflöst. Scheint sich hier der Gegenstand unserem Auge zu entziehen, so wird er dort zu Gestalt und Wesen, mit unseren eigenen Händen greifbar. Die eingangs als Motto zitierte Textpassage von Peter Bichsel betont den Wert der Arbeit, die von Elisabeth Strässle oft stellvertretend für den Begriff der Kunst verwendet wird. Noch viele Jahre nach Bichsels Aussage von 1981 hat sie sich nicht als Künstlerin gefühlt. Daraus er­klärt sich wohl auch die Haltung, aus der sie malt und zeichnet: Ohne vorgefasste, traditionelle Ansprüche schafft sie Anspruchsvolles, ohne jegliches Pathos schafft sie «Gefühlsbilder», weil sie vorurteilslos das sich Entwickelnde zulässt. Das Durchhalten, von dem sie für ihre künst­lerische Arbeit spricht, vergleicht sie mit ihren Wanderungen in der Na­tur: «Ich gehe allein wandern; ich zeichne und male allein.» 8) Dass sie ihre verschiedenen Werkgruppen auch nach ihrem zeitlichen Arbeitsauf­wand bemisst, als wären es Spaziergänge, Wanderungen, Tagesmärsche oder langwierige Expeditionen, ist sprechend. Während sie die riesigen Tücher körperlich erschöpfen und über viele Tage beschäftigen, schliesst sie die einzelnen Gemälde der Serie Terre inutilisable zumeist an ein und demselben Tag ab. Im Unterschied zu den «Tieren», die in ihrer we­senhaften Präsenz fortgesetzte Begegnungen ermöglichen, gründen die aus der Erinnerung geschaffenen Derborence-Bilder zwingend im Jetzt eines gegenwärtigen «Flows».

 

Mediale Brückenschläge: Transfer und Gleichzeitigkeit 

Zum Besonderen von Elisabeth Strässles Schaffen gehört die Verbin­dung von Zeichnung und Malerei sowie von Malerei und Objekt. Man­che Gemälde erinnern an Arbeiten auf Papier. Die grundierte Fläche der Leinwand, deren Weiss sie mit Bedacht wählt, um es hier gebrochen, dort strahlend einzusetzen, wird zum undefinierbaren Raum, in dem sich die Motive nicht mehr verorten lassen. Ins weisse Nichts platziert und als Einzelform isoliert, müssen sich die Gestalt oder der Fleck be­haupten. Während die oben erwähnten Gemälde von Affenskeletten als Paradebeispiele eines «zeichnenden Malens» auftreten, erinnern einige der neuesten Derborence-Bilder an Aquarelle. Als Resultate eines medi­alen Transfers können auch die monumentalen Leinwände mit Tiermoti­ven verstanden werden. Dabei betont die Künstlerin die Leinwand als Stoff, um ihn als offenes Tuch, als materiell erscheinendes Objekt (statt als Bild) erscheinen zu lassen. Im Falle des Elefanten (S.66/67) ist durch die vielfachen Lasuren tatsächlich eine «dicke Haut» entstanden, die trefflich an den Dickhäuter erinnert und dem Betrachter den erwähnten «Touch» suggeriert. Handelt es sich bei den genannten Beispielen um Übertragungen von einem Medium ins andere, so hat Elisabeth Strässle schon kurz nach ihrer Rückkehr aus New York auch versucht, Malerei und Zeichnung in demselben Werk miteinander zu verbinden. Von 1994 stammt das Bild Aeschisee 3000 B.C. (S.47), bei dem sie eine monochrome Malfläche von verschiedenen Brauntönen mit einer gelblich-weissen Zeichnung kombi­niert. Während die Palette das Erdreich eines ursprünglichen Ortes und einer vergangenen Zeit evoziert, können die gezeichneten Strukturen als Referenz an die betreffende Pfahlbauer-Siedlung gelesen werden. Elisabeth Strässle wird zu einer malenden und zeichnenden Feld- und Zeitforscherin, deren künstlerische Motivation im Entdecken, Erinnern und Vorstellen liegt. Die sich zwischen 1996 und 2006 anschliessen­den Paneele (S.56–61) sind stilistisch eng verwandt. Auch in dieser langen Reihe von grossformatigen Gemälden verbindet die Künstlerin monochrome Fläche und Zeichnung. Manches spricht dafür, dass sie sich beim Zeichnen der urban anmutenden Strukturen an die Grossstadt New York erinnert, die sie nach intensiven Lebens- und Schaffensjahren verlässt, um sich in einem kleinen Dorf ihrer Heimatregion Solothurn niederzulassen. Der Wechsel ist drastisch – und doch so typisch für den dialektischen Geist, der auch ihr Schaffen bestimmt. Die konzeptuell anmutende Serie in Braun-, Ocker- und Violett-Tönen endet 2006 mit ei­nem eindrucksvollen Werk, dessen sattes, geschlossenes Schwarz einer Schulwandtafel gleicht. Die Zeichnung, die wiederum Strukturen einer städtischen Siedlung unter offenem Himmel suggeriert, liegt wie eine halb schon verwischte Kreide-Spur auf dem dunklen Grund. Ein Bild des Abschieds, des Loslassens und Vergessens? Manche von Strässles Paneelen lassen an Gemälde von Alberto Giacometti denken, die in ähn­licher Weise Farbe und Zeichnung miteinander verbinden. Vergleichbar sind nicht nur die zeichnerischen Suchbewegungen und die Tiefe der Malgründe, sondern auch die Betonung der Bildfläche durch die maleri­sche oder zeichnerische Setzung von «Rahmen».


Zeit, Arbeit, Erinnerung 

Wer aus der Erinnerung arbeitet, der verbindet – im Vergegenwärtigen des Vergangenen – Zeiten. Und wem es gelingt, darüber in jenen «Flow» zu geraten, der uns bei erfüllender Tätigkeit erfasst, wird wiederum bei solcher Gegenwärtigkeit die Zeit (und seine eigene Vergänglichkeit) ver­gessen. Elisabeth Strässles Schaffen lebt und gelingt dank diesem ge­duldigen und vertrauensvollen Sich-Treiben-Lassen. Das künstlerische Werk ist ein «Produkt», das wie kein zweites als blosser Lebensbeweis, als Spur dienen kann. Je absichtsvoller solches «Markieren» aber er­folgt, desto wahrscheinlicher ist sein Verschwinden. Es ist der von Elisa­beth Strässle im Gespräch immer wieder erwähnte Wert der Freiheit, die sie auch den Betrachterinnen und Betrachtern ihrer Werke ermöglicht. Immer bleiben ihre Zeichnungen und Bilder offen genug, damit wir in ih­nen individuelle Wege finden, eigene Vorstellungen erleben können. Mit Beliebigkeit hat dies nichts zu tun. Denn Farbe und Zeichnung sind so lange gesucht, bis sie stimmen, uns in Stimmungen, Räume und Rhyth­men ziehen, uns mitnehmen zu unseren eigenen Erinnerungen.

 

2018, Christoph Vögele

 


1) Peter Bichsel, «Die ungeschriebenen Briefe der Elisabeth Strässle», in: Elisabeth Strässle – Zeichnungen, Ausstellungskatalog Galerie Medici, Solothurn 1981. 
2) Ebenda. 
3) Lis’81. Lisbon international show: International exhibition of drawings, Galeria Nacional de Arte Moderna Belém, 1981. 
4) Aussage von Elisabeth Strässle auf ihrer Homepage: www.elisabethstraessle.ch, Kapitel II. Von der Zeichnung zum Gemälde. 
5) Elisabeth Strässle im Gespräch mit dem Autor, 2. März 2018. 
6) Ebenda. 
7) Ebenda. 
8) Ebenda.

Regina Helbling: Über Elisabeth Strässle

Diese Frau scheint voller Widersprüche zu sein. Es fängt schon damit an, dass sie, eine kleine, zierliche Erscheinung, auf riesige Leinwände malt, die sie alle ganz allein an die Wand tackert – oft mehrere übereinander, damit der Malgrund weicher wird, «wie eine Schreibunterlage». Eigentlich ist Elisabeth Strässle ein wandelndes Understatement. Sie spricht von sich und ihrer Kunst, wie wenn sie ganz zufällig zur Malerei gekommen wäre und seit Jahren als Autodidaktin malen würde. Sie sei eine Einzelgängerin, habe eigentlich keine Kontakte, und im Internet existiere sie nicht.

Doch wenn man Elisabeth Strässle googelt, hat man als Erstes einen Treffer zu ihr, vom Kantonalen Kuratorium für Kulturförderung Solothurn – sie kommt vor der Fusspflegerin in Winterthur. Und dem Eintrag entnimmt man, dass sie keineswegs aus dem Nichts zur Malerei gekommen ist. Vor einem Studium der französischen Sprache und Literatur in Paris, das auf eine Ausbildung als Textildesignerin folgte, besuchte sie in den 60er Jahren vier Jahre lang Kunstschulen im Ruhrgebiet und die Kunstakademie Stuttgart. Erst in New York, wo sie nach Paris hinreiste und jahrelang «hängenblieb», kam sie gemäss ihren Beschreibungen so richtig zur Kunst. Hauptsächlich zeichnet und malt sie, meist abstrakt oder monochrom, manchmal tauchen schemenhafte Figuren, zum Beispiel immer wieder Affen oder Adler, aus den dunklen Gründen auf. Die Beschäftigung mit Themen zieht sich über Jahre hin, in vielen Zeichnungen werden die grossen Bilder vorbereitet, bis die Künstlerin Inhalt und Formen genau kennt.
Spätestens bei diesen Beschreibungen ihrer Arbeitsweise wird deutlich, mit welcher Ernsthaftigkeit sie ihr Werk vorantreibt — da verschwindet die scheinbare Unbedarftheit.

Es ist auch nicht so, dass ihre Kunst überhaupt nicht gewürdigt worden wäre. Da gab es doch Anerkennungspreise sowie Akademie- und Atelierstipendien; und einige Werke befinden sich in öffentlichem Besitz, sowohl in Solothurn wie in New York. Im Lexikon aller Schweizer Künstler, das mit Punkten von 1 bis 5 die Bedeutung von Künstlern beziffert (und auch der blosse Eingang in das Bewertungssystem geschafft werden muss), kommt sie immerhin auf zwei Punkte, womit sie in guter Gesellschaft ist.

Dass Elisabeth Strässles Kunst auch Konzeptkunst sein kann, zeigt ein Projekt aus den Jahren 2005/06. Sie hat ein Jahr lang nur Nachrichten geschaut, ist vor dem Fernseher gesessen und hat die Eindrücke aus aller Welt auf sich wirken lassen. Diese hat sie jeden Tag in kleinen Tonskulpturen verarbeitet – so findet man in ihrem Atelier zwölf Monate Weltgeschichte künstlerisch umgesetzt. Das Projekt passt gut zu ihrer Kunst und ihrer Person: in ihren vier Wänden eingekapselt und doch mit der Welt verbunden. Sie habe von aussen gesehen einen «furchtbaren Lebensstil», sie sei nicht geschäftig und nicht ausgebucht. Natürlich sehe sie sich Ausstellungen an und stelle schon jedes Jahr irgendwo selber aus. Strässle liebe die Grossstadt und lebe gerne in ihrem Dorf im Kanton Solothurn.

2013, Regina Helbling

Peter Bichsel: Die ungeschriebenen Briefe der Elisabeth Strässle

Elisabeth Strässle hat sich den Luxus geleistet zu arbeiten, sinnlos und ziellos zu arbeiten. Was hier vorliegt, das ist eine Produktion. Wer nicht bereit ist, Arbeit dahinter zu entdecken, für den ist es eine sinnlose Produktion. Elisabeth zuckt mit den Schultern und produziert lächelnd einige Fältchen in den Augenwinkeln.

Nationalökonomen wissen davon, um zu produzieren braucht man Geld, Boden und Arbeitskraft. Das Geld hat sich Elisabeth verdient, mit Glück und mit Talent verdient. Den Boden hat sie gefunden, der Boden heisst New York. Und Arbeit ist für Elisabeth eine Selbstverständlichkeit. Elisabeth ist eine Frau, die es schwer hat – auch das ist für sie eine Selbstverständlichkeit, alle Leute haben es schwer. Eine Geschichte ist zu erzählen: Elisabeth kommt an in New York, kommt aus dem Flughafen und fürchtet sich, in diese Stadt hineinzufahren. Sie entscheidet sich für ein Hotel weit ausserhalb der Stadt und lebt hier einige Tage – will zwar nach New York, aber fürchtet sich davor. Die Geschichte ist unglaubhaft, wenn man Elisabeth kennt. Sie ist tapfer und angstfrei. Es muss andere Gründe haben, wenn sie sich fürchtet. Sie kann das Risiko nicht eingehen, von der Stadt nicht angenommen zu werden. Sie betritt die Stadt und kauft Papier, grosse Bogen. Elisabeth ist keine Künstlerin, aber sie kann zeichnen; Elisabeth kann arbeiten. Ich erinnere mich an einen Reissverschluss, den sie gezeichnet hat in New York. Sie hat verzweifelt das gezeichnet, was sie kannte und was sie wusste. Sie hat New York ihre Geschichte erzählt. Das tun auch die polnischen, die griechischen, die irischen und italienischen Emigranten hier. Sie erzählen der Stadt New York ihre Geschichte. Geschichten erzählen ist eine Arbeit, und Arbeit macht diese Stadt aus. Ein gezeichneter Reissverschluss mag nichts gelten vor der Welt, vor der Stadt New York gilt er viel. Die Stadt hat eine Tradition darin, sich unverständliche Geschichten anzuhören. 

Die Stadt erinnert sich an den Blues und an die Balladen von Lester Young, von Charlie Parker, Billie Holiday. In New York wird sehr viel gearbeitet. Jeder versucht sich zu beweisen vor dieser Stadt. Jeder versucht ihr erstmal zu zeigen, wie schön er eine Ballade spielen kann oder wie schön er einen Reissverschluss zeichnen kann.Und eines Tages ist man allein und hat dieser Stadt nichts mehr zu beweisen und hat mit sich selbst fertig zu werden. Und Elisabeth kauft sich wieder Papier und will immer noch nicht eine Künstlerin werden: Nur arbeiten.

Sie hat nun nichts mehr zu beweisen, nichts mehr zu erzählen, nichts mehr zu beklagen. Sie hat nun nur noch Blätter zu füllen, und sie füllt diese Blätter mit sich selbst.

Es gibt jene Dinge, die man beschreiben möchte, und die man nicht beschreiben kann. Es gibt jene Briefe, die man geschrieben hat ohne Feder und Papier. Wir haben es schwer, wir alle haben es schwer. Sie lacht und gibt es nicht zu. Ich sehe die Fältchen in ihren Augenwinkeln. Elisabeth hat nichts anderes getan als Papierbogen mit Zeichen gefüllt. Diese Zeichen sind Schriftzeichen, es sind die Schriftzeichen der ungeschriebenen Briefe. Sie stehen nicht da um entziffert zu werden, sondern sie stehen da um uns alle an die ungeschriebenen Briefe zu erinnern. Wir alle haben keine Zeit für die ungeschriebenen Briefe. New York und Elisabeth Strässle haben Zeit genug. Vier Jahre harte Arbeit für ein paar ungeschriebene Briefe. That’s it, würde Janis Joplin sagen und vielleicht ein paar Fältchen machen in den Augenwinkeln.

1981, Peter Bichsel,
aus dem Katalog «Zeichnungen»,
Galerie Medici

Simon Baur: Lebenslinien im Dasein der Bilder

Im Anfang waren Zeichen, Worte und Sätze, die auf den Papieren zu einer eigenen Sprache fanden. In New York hatte sie sich damit einen Ort definiert, den Boden bereitet, ihre Freiheit gefunden. Doch es war mehr. Ein Selbstgespräch, ein reagierendes Gegenüber und sich damit klar über das eigene Tun werden. Sprechen befreit und Zeichnen ist nichts anderes als eine besondere Art von Sprache. Die Zeichnungen in Bleistift, Farbstift und Wasserfarbe, hin und wieder in Ergänzung von Tusche, sind alle körperlich. Hat sie tatsächlich mit ihrem ganzen Körper gezeichnet, im Grafit gelegen und den Linien eine freie Entfaltung ermöglicht? Eine Erfahrung, die sich auch in ihren Bildern beobachten lassen. Eine Spur von Landschaft, auch sie körperlich, ist in den Zeichnungen bereits vorgegeben. Und zusätzlich hat es auch Leerstellen, als hätte sie mit dem Radiergummi unliebsame Passagen wieder entfernt. 
Ein Suchen ist erkennbar, ein Abtasten, ein Ausloten, entlang den Grenzen, denjenigen des Zeichnens und den Eigenen.

Neben all diesen Zeichen, lesbaren und verschlüsselten, tauchen immer wieder Spuren von Tierskeletten auf. Lebewesen auf ihre Mechanik reduziert, als würden die Zeichen in Bewegung geraten, ihrer eigenen Statik enthoben und zum Schwingen gebracht. Lassen sich Klänge zeichnen? Subtil sind die Zeichnungen. Es sind erste Schritte, Versuche, ein filigranes Weben eines durchsichtigen Teppichs. Sie sind zart, fast schwebend, noch fehlt ihnen die Kraft, der Künstlerin den Mut sich weiter vorzuwagen. Die ersten Mollklänge sind aber spürbar. Sie finden in der Serie «Paneel« zu ihrem Selbst und entäussern sich in «Kobalt violett». Offene Serien, die einen Anfang, aber kein Ende ihr Eigen nennen, denn es ist belanglos, wann etwas geschieht, Hauptsache es ist da und findet seinen Ort und seine Sprache. Bei der Malerei nochmals anders als im Zeichnen.

Kein Ende - Malerei und Zeichnung, sie führen in Elisabeth Strässles Kunst einen Dialog, eine stilbildende Symbiose, wie wir es bisher in dieser Intensität nur bei Alberto Giacometti und Cy Twombly gesehen haben. 
Beide haben die Malerei vor vollkommen neue Tatsachen gestellt. Im Bewusstsein Zeichner zu sein, haben sie ihre Bilder gemalt. Dass beide auch herausragende Plastiker waren, ist bezeichnend. Ihre zeichnerische Sprache eignete sich optimal für Räume jeglichen Masses und Ausmasses. Nicht anders verhält es sich in den Arbeiten von Elisabeth Strässle. Gerade die Serie «Paneel» legt davon Zeugnis ab. Die grossformatigen Bilder, teils rostrot, teils grau, orange und gelb zeigen die vielfachen Verschränkungen. Möglichkeiten, die nur Bilder vermögen. Beim ersten Abtasten denkt man eine Grundfläche mit darüber gelegten Zeichen. Klammer auf. Ich gehe davon aus, dass man Bilder zig Mal betrachtet. Erkenntnis ist mit Wiederholung verbunden. Man muss sich den Flächen und Linien entlang schauen, sich in sie hinein denken, um ihre Absichten, ihren Wert und ihre Bedeutung zu verstehen. Klammer geschlossen. Der graue Hintergrund variiert zwischen hellen und dunklen Werten, die teils eng nebeneinander oder auch voneinander entfernt liegen. 
Sie geben den Bildern und ihren Geschichten den Grundtenor, den sie benötigen, um den schnell gesetzten Linien und der Flüchtigkeit einen Halt zu verleihen. Oben ist oft ein Rechteck offen, als bedürfe es auch in abstrakten Bildern der Aufteilung in Himmels und darunter liegender Erde. Immerhin beziehen sich auch «ungegenständliche» Bilder auf Objekte, wie das beigefügte Adjektiv zeigt. Oder anders. Vielleicht bedarf es, um die Zeichen auch wirklich lesen zu können, einer Erinnerung an die ehemalige Leere des unbeschriebenen Blattes? Oder ist es vielmehr die Regenwand vor dem wolkenlosen Himmel?

Innerhalb des Bildes denken, ermöglicht zahlreiche Überlegungen, Optionen, wie etwas sein könnte. Und doch wissen wir nie, ob wir damit richtig liegen. Doch um richtig und falsch geht es in Bildern nicht. Sie leben von einer Sprache, die zu uns spricht und deren Zeichen wir lesen können oder eben nicht. Und beides ist zu akzeptieren. Es handelt sich also um einen Freiraum, der das Darunterliegende anders, vielleicht dichter und intensiver gewichtet. Lesen wir uns durch eine der Vertikalstrukturen, bewegen wir uns automatisch an den rechten Bildrand und stellen dabei fest, dass wir im untern Bereich erneut ein horizontal liegendes Rechteck erkennen, dass durch die horizontal-gelben Linien gebildet werden. Wir erkennen also auf der Fläche Verschiedenes. Im übertragenen Sinn würde ich ab jetzt gerne vom Bildraum sprechen, denn die verschiedenen Bereiche, zusammen mit den Linien, verflechten sich zu einem gemalten Raum. Wir erkennen ganz unterschiedliche Elemente, die untereinander interagieren. Nehmen wir ein anderes Bild, in dem die gezeichneten Linien weniger durch Pinselstriche in hellen Farben, sondern in Schwarz gebildet werden. So als handle es sich tatsächlich um Zeichnung auf Malerei. Die Dynamik wird zurückgenommen, dafür verhält sich Vieles plastischer. Man denkt an eine unruhige Landschaft mit Absenkungen, Gräben und Hügelketten. Zeichnungslinien und farbige Helldunkelwerte verflechten sich zu einem dichten Gefüge. Jede Linie ist eine klare Setzung und sie ist aus einer Anderen, Nebenstehenden hervorgegangen. Wer die Bilder nebeneinander sieht, erkennt zweifellos die Variationen, doch auch das Thema wird sichtbar.

Wie ist sie, die Malerei von Elisabeth Strässle? Sie ist räumlich und doch auch stark in der Zeichenhaftigkeit begründet, ihre Farbwahl ist von einer aus der Tiefe heraus glühenden Dunkeltonigkeit. So als würde jeden Moment das Magma eines Vulkans durch Öffnungen in der Erde quellen. Oft fühlt man sich an Naturbeobachtung erinnert, das Abtasten eines alten Baumstammes, er Blick über eine hügelige Landschaft könnten Referenzen sein. Immer ist ein Dürfen, nie ein Müssen. Es ist die Offenheit, gegenüber Linien, Farben, Räumen, gegenüber dem Denken, Empfinden und dem eigenen Sein, die fasziniert. Es ist ein permanentes Suchen nach der innersten Logik der Malerei spürbar. All dies wird den Betrachtern zur Verfügung gestellt. Allein ist er damit nur insofern, als das er sich seine eigenen Gedanken machen kann. Wer den Halt verliert, orientiere sich an den Bildräumen und am Verlauf der Linien, sie verleihen der Flüchtigkeit der Bildflächen einen inneren Halt, ein konstituierendes Gerüst, aber auch eine Leichtigkeit. Sie sind sozusagen die Lebenslinien im Leben der Bilder.

2014, Simon Baur, Basel

Philippe Mottaz

I

Elle explique qu’elle voulait voyager, voir autre chose. Mais qu’elle souhaitait le faire sans destination, qu’elle attendait que le monde vienne à elle, par immersion.

Ainsi, en novembre 2005, Elisabeth Straessle décida de suivre pendant une année les actualités à la télévision et de tenir le «journal de son voyage». Le dispositif nécessaire à la captation des images fut assemblé: un téléviseur, une mini-caméra, un appareil de photo. Pour son travail à elle, la Neue Zürcher Zeitung, des carnets de notes et d’esquisses, de l’argile. Se mit alors en place une étrange cohabitation entre des machines froides auxquelles Elisabeth Straessle est par nature rétive et les matières pauvres qu’elle affectionne. Rapidement, ses journées furent orchestrées et structurées par ce projet. Le rite prit son rythme. Elisabeth Straessle découvrit soudainement ce qu’elle décrit dans ses notes de travail comme «l’inexorable expérience de la télévision». Durant plus d’une année, une routine lancinante s’installe: un visionnage et une sélection des images le matin, puis l’après-midi, le dessin des esquisses qui serviront ensuite de base à la sculpture. Elle développe une accoutumance: le 18 novembre 2006, après 365 jours, elle ne parvient pas à débrancher le dispositif. Elle mettra un mois de plus à le faire. Elle est, dit-elle, devenue presqu’insensible aux odeurs et aux goûts. En même temps que les images du monde l’inondaient, le monde, lui, avait comme disparu.

Les figurines, les objets et les croquis de la série «Breaking News» sont nés de cette expérience.

II

Sur les écrans de télévision qui tentent en continu, ou comme dans ce cas à heure fixe, de raconter les battements du monde, il n’y a qu’un flux ininterrompu d’électrons projetés sur un écran de verre. On ne s’y arrête plus, l’œil glisse sur ces boucles d’information répétées à satiété. Notre monde est devenu trop complexe pour être simplement donné à voir.

En plongeant ses mains dans le ventre de son téléviseur, dans ce que j’aime imaginer comme une vivisection déterminée, en bloquant le flux pour en remonter des matières précises, Elisabeth Straessle a fabriqué du tragique. L’image télévisuelle est lisse, ruisselante. Ses figurines, elles, sont denses et rugueuses. Elle en a évacué la couleur, les a dépouillées de leurs oripeaux graphiques. On passe, par cet acte conscient, du fluide à l’essence. Du bruit de fond d’où naît l’indifférence distraite, à la réflexion et au sens.

Noires, ocres, blanches, parfois légèrement laquées, ces pièces délicates, fragiles, ont la puissance des cris figés. Elles ont moins été sculptées que modelées, elles sont mémento, gri-gri. Mais c’est justement dans la spontanéité de leur facture, dans leur aspect totalement primitif qu’elles acquièrent leur dimension universelle.

Les images télévisuelles qui en sont à l’origine ont disparu depuis longtemps, remplacées par d’autres et par d’autres encore. Ces objets font, eux, travail de mémoire.

Ramallah, le 3 novembre 2006. Un char de l’armée israélienne ouvre le feu sur un cortège de femmes venues servir de bouclier humain à des combattants du Hamas réfugiés dans une mosquée de Beit-Hanun. Deux femmes sont tuées et dix autres blessées.

Au matin du 4 novembre, Elisabeth Straessle visionne les images du drame. Durant la journée, elle saisit dans ses premières esquisses la panique des femmes en fuite. Puis elle fixe leurs châles et l’arrière plan dans l’argile.

Une traversée dramatique de plus, la même année. Les trafiquants ont empoché leur argent et sont restés au pays dans leurs villas cossues. Le bateau surchargé emmenant les migrants a-t-il chaviré? Noyade, piétinement? C’est sans importance, la mort est à nouveau là, sur les quais de Lampedusa. Ni couverture, ni sac mortuaire noir, alors on cache les morts sous un journal.
Croquis, sculptures, dans l’atelier, loin du drame, l’artiste se met au travail. Les corps sont ocres ou blancs, les journaux noirs. Au bas des écrans de tv on affiche le cours des devises et de la bourse. Jamais celui de la vie humaine.

III

On pourrait être chez un médecin légiste ou un paléontologue. A l’atelier, les objets en terre nés du voyage passé dans l’actualité sont soigneusement arrangés dans des boîtes en carton. Sur de grandes tables, Elisabeth Straessle a aligné les pièces à conviction de la brutalité de notre époque, une collection prenante de fragments pétrifiés de l’histoire récente.
Les tentes d’un camp de réfugiés surgissent du désert. Des pneus empilés conjurent l’image menaçante d’un «road-block» quelque part dans une zone de conflit. Les filets de camouflage qu’utilisent toutes les armées de la planète ont cessé de battre dans le vent et sont figés dans des tressages élégants.

IV

En regardant les toiles qui se partagent l’atelier avec les sculptures issues de «Breaking News», les échos et les résonances avec l’ensemble de l’œuvre s’imposent. Qu’elle sculpte, peigne ou dessine, Elisabeth Straessle pratique le même «matérialisme abstrait», fait surgir l’émotion en ramenant la matière à la surface de ses œuvres.

Ce ne sont ainsi pas ses yeux, mais ses mains qui guident son instinct d’artiste. Elle interroge sa réalité à tâtons, les paumes ouvertes vers l’avant, forçant le point de contact avec l’écorce du monde.

2015, Philipp Mottaz 
anlässlich seines Atelierbesuches im Januar 2015

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Roswitha Schild: Meditationen über das Elefantenwesen

Elisabeth Strässle ist eine leidenschaftliche Zeichnerin. Ebenso, wie sie mit Strichen imaginäre Punkte auf einem Blatt verbindet, sucht sie Verbindungen zwischen Dingen, die ihr begegnen, und nicht zuletzt auch Verbindungen zwischen diesen Objekten – oder Erfahrungen – und ihr selbst. Was ihr spezielles Interesse weckt, macht sie sich in einer systematischen Annäherung zu eigen. Diese Aneignung geschieht mehrheitlich zeichnend, malend jedoch bei den Paneelen, plastisch bei den TV-News-Kleinskulpturen. Dann gilt ihre volle Konzentration dieser einen Sache. Ihr Vorgehen ist konzeptionell: sie definiert das Untersuchungsgebiet, erschliesst sich schriftliche und dingliche Quellen, besucht Museen, Archive, Monumente, gibt sich Regeln für ihre Arbeit bezüglich Technik, Bildträger, Dauer etc.. Ihre Forschungsarbeit zielt auf nichts weniger, als dem Wesen der Dinge – und simultan dem Kunstschaffen – auf die Spur zu kommen.

Warum Elefanten? Während man in der Jugend fast wahllos zahlreiche Erfahrungen auf sich einwirken lässt, neigt man im fortgeschritteneren Alter dazu, nur mehr Dinge weiter zu verfolgen, die sich durch wiederholte Fügungen zu einem für das eigene Lebensmuster sinnvollen Kreis schliessen. Als Elisabeth Strässle 1977 nach dem für sie schicksalhaften New York zog, sog sie die Stadt förmlich in sich auf. Im American Museum of Natural History, dem 1869 gegründeten, überwältigend reichen und stimmungsvollen Museum am Central Park West besuchte sie Abendkurse in Animal Drawing: unvergesslich, wie sie sich nachts unter Skeletten, ausgestopften Tieren und anderen Künstlerinnen und Künstlern frei im Museum bewegen konnte. Unter anderem zeichnete sie damals Affen, ein Thema, das sie gut 30 Jahre später wieder aufnahm – Elefanten hingegen nicht. Jedoch besuchte sie 1977 die legendäre Ausstellung im International Center of Photography in N.Y.C. mit den Fotografien verendender und toter Elefanten, Skeletten und Artefakten von Peter Beard. Dessen 1965 erstmals erschienenes Buch „The End of the Game“ hatte mit verstörenden Bildern verhungernder und bereits verhungerter Tiere weltweit auf das Schwinden des natürlichen Lebensraumes der afrikanischen Elefanten aufmerksam gemacht und weisse Elfenbeinjäger als feige Frevler an diesen archaischen, verstandes- wie gefühlsbegabten grauen Riesen angeprangert.

Bereits zehn Jahre zuvor hatte Elisabeth Strässle Bekanntschaft mit einem sehr speziellen Elefanten gemacht, an welchen sie sich heute wieder erinnert: mit dem «Goethe-Elefanten», den sie noch während ihrer Ausbildung zur Textil-Designerin anlässlich der dritten oder vierten Documenta im naturhistorischen Museum Ottoneum, in unmittelbarere Nähe zum Friedrichsplatz in Kassel gesehen hatte. Goethe hatte sich 1784 den Schädel des in der Karlsaue abgestürzten indischen Elefanten, der 1773 zweijährig als Hochzeitsgeschenk an den Landgrafen Friedrich II nach Kassel gekommen war, ausgeliehen zu seinen Studien über den Zwischenkieferknochen, der im 18. Jahrhundert als Unterscheidungsmerkmal zwischen Tier und Mensch betrachtet wurde, bis Goethe einen menschlichen Zwischenkieferknochen nachwies – wofür er teils massive Anfeindungen in Kauf nehmen musste.

Naturhistorische Museen haben Elisabeth Strässle – wie andere Museen ebenso – schon immer interessiert. Während Kunstmuseen aber oft dem Zeitgeist folgen bei der Auswahl der Werke, die in den Schauräumen gezeigt werden, orientieren sich Naturhistorische Museen mehr an einer inneren Logik des ihnen zur Verfügung stehenden Sammlungsgutes. Dieses systematische Denken kommt der Künstlerin durchaus entgegen.

Die einen ihrer in Rötel oder Bleistift und Kohle gezeichneten Elefanten sind fast durchscheinend: nur ein feines Gespinst von Linien deutet die Skelettstruktur an. Fast fühlt man sich an «das unbekannte Meisterwerk» des alten Malers Frenhofer erinnert, wo es an einem nach zehnjährigem Malprozess einzig übriggebliebenen erkennbaren Fuss ist, dem Betrachter eine Ahnung von beseelter, fast überirdischer weiblicher Schönheit zu geben. Dahinter steht die schon von Théophile Gautier, dem Freund und Berater Balzacs, des Schöpfers der Novelle „Le Chef-d’Oeuvre Inconnu“, geäusserte Ansicht, dass es im Wesen der Kunst liegt, dass sich ihr Gegenstand im Moment der Realisierung verflüchtigt.

Andere Elefanten hingegen sind mit festem und opakem Strich gezeichnet. Die Künstlerin verleiht diesen eine fast blattsprengende Solidität und Substanz, gleichsam als hätte sie eine schützende Haut über das fragile Innere gelegt. Gleichzeitig wahrt sie eine gewisse Unschärfe, welche den Darstellungen etwas fast Auratisches verleiht.

Nach der Lektüre von Beards „The End of the Game“ schrieb der Schriftsteller und Regisseur Romain Gary 1966 in seinem „Letter to an Elephant“: „In my eyes, dear Elephant, sir, you represent to perfection everything that is threatend today with extinction in the name of progress, efficiency, materialism or even reason.“ Die Bilder der Elefanten verweisen auf etwas, welches weit über das reine Abbild einer Spezies hinausgeht, indem es uns alle angeht und berührt.

2015, Roswitha Schild,
anlässlich der Ausstellung in der Galerie SELZ art contemporain, Perrefitte, im Juni 2015

CURRICULUM VITAE

*1942in Solothurn
lebt in Derendingen, arbeitet in Gerlafingen
1978Zuwendung zur freien Kunst
ab 1977in New York / USA
1974–1977 Studium der französischen Sprache und Literatur in Paris
1969–1974freischaffende Textildesignerin in Zürich
1965–1969Kunstschulen im Ruhrgebiet und Weiterbildung an der Kunstakademie Stuttgart
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